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Sie nannten ihn Bübi. Wir sind uns mal begegnet, es gibt Fotos, die das beweisen. Schwarzweiß, er mit Pfeife, ich mit einem Löffel Brei. Er war der Sohn von Susanne und sie die große Schwester meines Vaters. Susanne vergaste sich in einer Garage. Vorher gab sie Bübi zu ihren Eltern. Mein Vater hatte plötzlich einen kleinen Bruder. Eine Mutter hatte er nicht, denn sie war bei seiner Geburt gestorben. Eine eilig herbeigeheiratete Stiefmutter sollte sie ersetzen. Bübi hatte Krebs in den Lymphdrüsen, Hodgkin. Als er starb, war ich vier.

Einmal, als ich vom Klo kam, hörte ich meine Mutter am Telefon weinen, weil mein Onkel Klaus mit dem Flugzeug abgestürzt war. Da war ich neun. Wir sprachen nie über die Toten, bis zu dem Tag, als mein Bruder Oliver die Bübi-Diagnose bekam. Hodgkin. Ich war neunzehn und der Tod interessierte mich nicht. Meinen Bruder auch nicht, aber er fuhr jetzt regelmäßig in die Uniklinik. Chemotherapie, Bestrahlung, es sah nicht gut aus, die Ärzte wollten schon aufgeben, aber einer ging aufs Ganze und verabreichte ihm eine kaum mehr vertretbare Dosis Strahlen. Mein Bruder sprang dem Tod von der Schippe, suchte sich einen Job, heiratete, ließ sich scheiden, verliebte sich neu und bekam ein Kind. Ein Wunder, nach all der Bestrahlung. Laura.

Als Kind schlug sich mein kleiner Cousin Kai gleichzeitig lachend und weinend den Kopf auf. Später klaute er seinem Vormund eine Wochenration Methadon und zog sich den Stecker. Er starb am 62. Geburtstag meiner Mutter. Kai war der Sohn von Onkel Klaus.

Drei Jahre später dann mein Vater. Blasenkrebs. Ich hätte ihm gern noch viel erzählt, aber wir wussten beide nicht, wie das geht. Er will dir unbedingt noch was sagen, teilte meine Mutter mit. Ich sagte ihm, es sei alles gut und er könne jetzt loslassen. Er starb in jener Nacht und ich saß bei ihm im Bett, hielt seine Hand und versuchte ihn nicht festzuhalten. Er tat seinen letzten Atemzug, ein ganz feiner stiller Hauch. Am nächsten Tag wurde ich achtunddreißig.

Kurz danach füllte sich die Lunge meines Bruders mit Flüssigkeit, jeder Atemzug ein Rasseln. Das Herz war schuld. Eine Spätfolge der Krebstherapie, hieß es. Er wurde operiert, es wurde nicht besser, er bekam einen Schrittmacher und es wurde nicht besser. Er kam auf eine Spenderliste und wir warteten auf den Tod eines anderen, eines Menschen mit einem guten Herzen. Vor Monaten war er mal enttäuscht von dir und jetzt will er dich nicht sehen, sagte meine Mutter. Wenn wir uns jetzt gegen seinen Willen durchsetzen, muss er ja denken, dass es sehr schlecht um ihn steht, sagte sie. Es stand sehr schlecht um ihn und nur ein einziges Mal noch sah ich ihn bei Bewusstsein. Dann, endlich, hatten sie ein Herz gefunden, aber es wollte ihm nicht passen. Ich sah ihn durch die Scheibe einer Tür, er lag da, mit offenem Brustkorb, beatmet durch eine Maschine, die Hände auf den Bauch gelegt. Ich musste die ganze Zeit daran denken, wie ähnlich sich unsere Hände sind. Als er anfing blau anzulaufen, schalteten sie ab. Stille.

Ich bin jetzt achtundvierzig und wenn ich zurückblicke, zieht es mich hinab in jenes Narbenland, in dem Nähe nur im Angesicht des Todes möglich ist. Manchmal blicke ich nach vorn, in Richtung meines eigenen Todes, dann verlasse ich die mit Schmerz ausgeschlagene Kuschelzone und stürze mich in dieses tödliche Leben.

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