Wie ich neulich dem Rassisten in mir begegnete

Rassismus und Spießigkeit schlummern in allen von uns. Sie zu reflektieren ist der erste Schritt, sie zu entschärfen. Aber manchmal verstecken sie sich gut.

 

Ich bin Rassist

Am Wochenende bin ich nach einem langen Workshop mit der S-Bahn nach Hause gefahren. Als ich aussteigen wollte stand ich eine ganze Weile neben einem jungen Mann mit dunkler Hautfarbe. Er hatte eine pizzaschachtelgroße Plastikschale mit Fastfood in der Hand, war offensichtlich ziemlich zugedröhnt und aß sein Kebab mit Pommes. Dabei benutze er weder Besteck noch seine Finger, sondern führte immer die ganze Schale zum Mund. Um sich herum hatte er dabei im Radius von einem Meter Essen auf dem Fußboden verteilt. Viel Essen. „Er isst wie ein Schwein“, dachte es in mir. „Sie essen wie die Schweine“ übersetzte dies mein innerer Rassismusdetektor. Denn ich bin eine Rassistin. Ich bin das Ergebnis jahrhundertelanger Überlegenheitsgefühle. Ich bin mir darüber bewusst und steuere so gut ich kann gegen. Also spitze ich meine Rassismen zu, wann immer sie mir auffallen. Ich seziere und analysiere sie und hoffe, sie dadurch zu entschärfen.

Und Spießer

Noch während ich so darüber nachdachte, bremste die S-Bahn etwas abrupt, der junge Mann verlor das Gleichgewicht und hielt sich mit der freien Hand an meinem Unterarm fest. „Fettfinger! Die ist frisch gewaschen“, quiekte der Spießer in mir. Vermutlich warf ich dem jungen Mann noch einen sehr bösen Blick zu und stieg aus.

Als ich weiter lief, stiegen aber, neben der Scham über meinen Rassismus und meine Spießigkeit noch weitere Gefühle in mir auf. Ich fühlte mich berührt. Der Griff an meinen Unterarm erschien mir menschlich und natürlich. Ich dachte darüber nach, wie ich selbst versucht hätte mich an allen möglichen ungeeigneten glatten Oberflächen festzuklammern, um bloß keinen anderen Menschen zu berühren. Wie absurd ist doch diese krampfhafte Vermeidung von Körperkontakt und wie schön, wenn ihn jemand so selbstverständlich herstellt.

Dieses mal dauerte es etwas länger, bis mein Rassismusdetektor ansprang.

Aber offensichtlich verklärte ich diesen Mann zum unverdorbenen Naturmenschen, noch nicht versaut von großstädtischen Neurosen, weil er vermutlich gerade erst unter irgendeinem afrikanischen Busch hervor gekrochen ist.

Und doch hat er mich berührt

Und doch hat mich dieser Griff nach meinem Arm, diese selbstverständliche Kontaktaufnahme berührt. Es war eine der Situation angemessene und sinnvolle Handlung. Sie hat mir gezeigt, wie schwer es für mich ist, Unterstützung anzunehmen und andere Menschen als geeignete Hilfeleister wahrzunehmen. Das bin nicht nur ich, das ist Berlin, das ist Großstadt, das ist auch notwendige Abgrenzung im viel zu vollen S-Bahnwagen. Nur hat das absolut nichts mit Hautfarben oder Herkunft zu tun. Allenfalls mit Verhaltensweisen, die sich durch das Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum entwickeln.

Und auch der Spießer in mir darf spießig sein und keinen Bock auf Fettfinger haben. Denn, verdammt nochmal, die Jacke war wirklich gerade frisch gewaschen.

Aber das nächste mal, wenn ich in der vollen S-Bahn stehe und das Gleichgewicht verliere, werde ich beherzt nach dem nächsten Unterarm greifen. Ich bin gespannt, was dann passiert.

 

Die zweite Woche mit Faramir

Die zweite Woche mit Faramir: die wunderbare Entspanntheit eines platzenden Knotens

Nach einer anstrengenden Woche mit viel Unsicherheit, einem Hund, der nicht allein rausgeht, der in der Wohnung zwar immer mehr Vertrauen fasst und sich entspannt, aber sich beim ersten Anzeichen von Rausgehvorbereitungen (Leine, Geschirr, Futterbeutel) im letzten Winkel versteckt, nach einer Woche von Scheiße aufwischen und Gestank, von zernagten Gegenständen und hektischer Unruhe, sind sowohl Faramir als auch ich erschöpft. Das klingt schlimmer als es war, denn gleichzeitig ist da so ein unglaublich freundliches Geschöpf eingezogen, er weiß halt nicht, wie das alles geht und ich bin trotz meiner Entspanntheit und Geduld offensichtlich nicht in der Lage, es ihm zu zeigen. Trotz der vielen Bücher, die ich gelesen und der Gespräche, die ich geführt habe, mache ich offensichtlich alles falsch. Das Schlimmste an den Büchern ist, dass mir so sehr bewusst ist, was alles schief läuft. Ich bestärke seine Angst, ich lasse mich von ihm an der Leine hinterherziehen, all das nur, weil ich es nicht besser hinkriege, weil ich froh bin, dass er überhaupt irgendwo hingeht und nicht nur zitternd in Hecken liegt.

Ich hole mir Hilfe bei verschiedenen Tiertherapeuten und –trainern. Im Prinzip bestätigen sie alles, was ich bereits gelesen habe. Ich soll noch geduldiger sein und die klitzekleinsten Fortschritte loben, loben, loben. ‚Mache ich doch schon‘, maule ich vor mich hin. Ein zusätzlicher Tipp, den ich bekommen habe ist, einfach eine Weile draußen sitzen zu bleiben, damit Faramir entspannt genug ist, seine Geschäfte zu machen.

Also hocken wir Freitag Abend draußen auf der Wiese, ich lerne dutzende Nachbarn und deren Hunde kennen, sie reden mir gut zu oder wissen alles besser, Faramir liegt semi-entspannt neben mir im Gras und beobachtet das Treiben um uns herum. Irgendwann zieht ein Gewitter auf, wir sitzen noch eine Weile im Regen und dann hab ich genug. Ich stehe auf, gehe ans Ende der Leine, drehe mich nicht um, rede nicht mit Faramir, versuche ihn nicht zu ermuntern, sondern stehe einfach da, spüre den Regen auf meinem Kopf und warte. Und warte. Und warte. Kurz bevor ich Spinnenwebe ansetze, geschieht das Wunder, Faramir kommt in meine Richtung gelaufen, obwohl das schon die Etappe des Heimweges ist, die ich ihn bisher immer tragen musste. Es geht da zwischen den Häusern durch einen schmalen Durchgang in Richtung Straße. Ich gehe wieder ans Ende der Leine und warte. Und er kommt. So tasten wir uns Stück für Stück vor, er geht Treppen runter und rauf zur Haustür. Ich immer eine Leinenlänge vorweg, ignoriere ihn, drehe mich nicht um. Schwierig wird es nochmal am Fahrstuhl, denn da kann ich nicht weit genug reingehen, ohne dass die Tür zugeht. Die Leine allein reicht dem Bewegungssensor offensichtlich nicht. Aber auch das klappt irgendwann und schließlich sind wir oben angekommen und ich lobe ihn wie blöde. Ein begeisterter und stolzer Hund rast auf den Balkon und macht glücklich eine Riesenwurst, ich wische die wortlos auf und freue mich (heimlich). Nicht Faramir hat riesige Fortschritte gemacht, sondern ich habe endlich herausgefunden, wie ich Signale setze, die der Hund versteht.

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Am nächsten Tag beginnt wieder alles mit der Angst vor der Treppe, aber ich trage Faramir nur die ersten drei Stufen runter, den Rest schafft er allein. Draußen läuft er jetzt ganz selbstverständlich in meine Richtung, wenn ich nur entspannt vorweg gehe. Kein Geziehe an der Leine mehr, kein Zusammenwachsen mit Gebüsch und Hecke.

Seitdem läuft der Laden, wir gehen entspannt raus und wieder rein, der Fahrstuhl ist beim Hochfahren immer noch ein bisschen schwierig, aber auch das wird immer besser. Nur das mit dem Kacken draußen will immer noch nicht klappen. Die Tierpsychologin sagt, ich soll mich an relativ kurzer Leine draußen hinstellen, ihn nicht beachten und warten. Dann würde ihm langweilig und er könnte in Ruhe sein Geschäft machen. Ich stehe also heute morgen mit Faramir an einem Baum, gucke Löcher in die Luft, ziehe mir den Argwohn der vorbeikommenden Nachbarn zu und warte. Faramir legt sich hin, aber er langweilt sich nicht. Nach etwa zwanzig Minuten bin ich selbst so entspannt, dass ich dringend nachhause muss. Wir gehen beide aufs Klo, ich im Badezimmer, er auf dem Balkon.

Die erste Woche mit Faramir

Die erste Woche mit Faramir: Vertrauen, Angst und jetzt ist schon wieder nichts passiert

Am 30. Juni fahre ich mit Transportbox, Wasser, Napf, bergeweise Leckerlies, Halskette und Sicherheitsgeschirr zum Flughafen Tegel, um meinen Hund Faramir abzuholen. Ich hab ihn adoptiert und hinter mir liegen Wochen mit Papierkram, Telefonaten und Hausbesuch zur Überprüfung, ob meine Angaben stimmen und ich nicht eigentlich eine tätowierte Frau mit kurzgeschorenen Haaren bin, die den Hund in den Keller sperren und quälen will. Offensichtlich habe ich die Tests bestanden, ich habe nämlich gar keinen Keller und der Adoption wird zugestimmt.

Eigentlich wollte ich einen Kuvasz, so einen weißen Flokati, den hatte ich als ich 15 war und noch bei meinen Eltern wohnte. Aber das ist ein Herdenschutzhund und keine Tierschutzorganisation, die was auf sich hält, würde mir so einen Hund geben, da ich in der Stadt wohne und keinen eigenen Garten habe. Nach mehreren Versuchen gebe ich den Kuvaszplan auf und gucke nach anderen Hunden. Ich suche dabei in den Onlineauftritten deutscher Tierheime, aber auch anderer Organisationen, die auf die Vermittlung von Tieren aus Bulgarien, Rumänien, Spanien, Griechenland usw. spezialisiert sind. Auf der Seite von Stray bleibe ich an Freda hängen. Ihr Blick erinnert mich an den meiner Katze und ich mag dieses frech-neugierige Geschau. Freda hat einen Bruder, Faramir, der guckt dagegen sehr ängstlich und schüchtern. Ich weiß zwar überhaupt nicht wie das gehen soll, aber ich beschließe, die Geschwister nicht zu trennen und versuche die Adoption beider Hunde. Zu der Zeit befinden sie sich in einem riesigen Hundeshelter in Rafina, in der Nähe von Athen.

 

Freda

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Faramir und Freda

Ich fülle also die seitenlange Selbstauskunft aus und schicke sie an Stray. Schon am nächsten Tag antwortet mir die für Freda zuständige Frau mit der Info, dass Freda schon eine Familie in Griechenland gefunden hat. Eigentlich hatte ich mich ja in Freda verguckt und ihr Bruder Faramir solllte nur mit, weil ich die Geschwister nicht trennen wollte. Aber nach kurzem Überlegen war klar, dann ist es jetzt eben Faramir, der kleine schüchterne Hundejunge. Wie sich dann im Kontakt mit der für ihn zuständigen Frau herausstellte, haben schwarze Hunde fast keine Chance adoptiert zu werden, nach Deutschland ist es schon sehr schwer, in Griechenland selbst quasi unmöglich. Ich verstehe nicht warum, obwohl ja auch ich erst auf einen Hund mit hellem Fell fixiert war. Ich hätte nur nicht gedacht, dass das so verbreitet ist. Mainstream sind eben nicht immer nur die anderen.

In den nächsten Wochen bleibe ich in engem Kontakt mit der Organisation Stray, bekomme aktuelle Fotos von Faramir, und beauftrage ein maßgeschneidertes Sicherheitsgeschirr. Früher als gedacht steht der Flug für den 30. Juni fest. Ich lese Bücher über Beschwichtigungssignale, positives Bestärken und die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Caniden und Primaten.

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Gut vorbereitet, glaube ich, mache ich mich am 30. auf den Weg nach Tegel. Nach langem Warten mit zwei weiteren Familien, einer Kontaktperson der Tierschutzorganisation Stray und einer Freundin der Flugpatin (das kann irgendjemand sein, der bereit ist, die Hunde während des Flugs zu begleiten und bei Ankunft in Empfang zu nehmen), kommen endlich die Hunde durch das Ankunftsgate.

Als letztes kommt die Box von Faramir. Die Flugpatin erzählt, dass er mit seiner Box zweimal von dem Kofferwagen gefallen war. Glücklicherweise erfahre ich das erst im Nachhinein und musste es nicht mit ansehen. Während die beiden Hunde der anderen beiden Adoptandenfamilien schon neugierig im Gang des Flughafens rumschnüffeln, sitzt ein kleines Häufchen Faramir noch immer in seiner Box und beschließt da auch zu bleiben. Alle anderen wollen ihm gut zureden, leider haben sie die Bücher über Beschwichtigungssignale ganz offensichtlich nicht gelesen, sonst würden sie sich nicht über den Hund beugen und mit lauter Stimme auf ihn einreden. Nach kurzer Zeit habe ich genug, sie meinen es ja alle gut, aber ich schiebe sie trotzdem beiseite, greife mir Faramir und trage seine gut abgehangenen 17 kg zum Auto in der Tiefgarage. Dort schlüpft er sofort in die bereitstehende Box und ist während der 30 minütigen Fahrt relativ entspannt.

Zuhause angekommen lasse ich ihn noch unten auf dem Fußweg aus der Box, aber er ist so verschreckt, dass er nur versucht mit der nächstbesten Hecke eins zu werden. Also setze ich ihn erneut in die Box und wuchte das ganze Paket in meine Wohnung in der 11. Etage (mit Fahrstuhl bis zur 10.).

Dort angekommen frisst Faramir ein bisschen und rennt sonst vor allem unruhig hin und her. Alles ist fremd.

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Zum Pullern und Kacken lasse ich Faramir auf den Balkon, ganz nach draußen traut er sich nicht. In der ersten Nacht läuft er viel hin und her, ab und zu legt er sich an das Fußende des Betts, die sonst so ruhige Wohnung bebt vor Aufregung und Unruhe.

Am nächsten Tag versuche ich mit ihm raus zu gehen. Schon beim Anlegen des Geschirrs und des zusätzlichen Halsbands macht er sich ganz klein und platt. Bevor er zum Fahrstuhl kommt, muss er eine Etage die Treppe runter laufen, eine Hürde, die unüberwindlich scheint. Ich sitze den halben Tag lesend im Treppenhaus, eine Leckerliespur führt von der Wohnungstür die Treppe runter, aber Faramir traut sich nur bis zur Treppenkante, ab da geht nichts mehr. Ich bleibe geduldig und warte, aber vergeblich. Es ist eine Gratwanderung, jedesmal wenn ich aufgebe und wieder in die Wohnung gehe, bestätige ich Faramir in seiner Angst. Ich weiß nicht weiter. Nach Beratung mit einem hundebesitzenden Freund trage ich Faramir runter und raus in den parkartigen Innenhof. Dort gehen viele Menschen mit und ohne Hund spazieren, Faramir schnuppert hektisch, zieht mich hinter sich her und sobald er eine Hecke oder ein Gebüsch sieht, verschwindet er darin. Nach einer halben Stunde trage ich ihn wieder hoch und er macht sein Geschäft auf dem Balkon.

So vergeht die erste Woche, ich bin über Nacht Mama geworden, hocke nur zuhause, wische Pipi und Kacka auf und bin total überfordert. Alle Bemühungen dem Hund die Angst vor der Treppe zu nehmen, helfen nichts, inzwischen entleert er sich nicht nur auf dem Balkon, sondern auch im Arbeitszimmer, ich trage ihn weiterhin raus und wieder rein und beide werden wir von Tag zu Tag immer unsicherer.

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Meine Oma

Ruth Mäder, geborene Reischauer, war meine Oma.

Oma Mäder.

Sie war die Mutter meiner Mutter, ist 1989 gestorben und wurde 75 Jahre alt.

Geboren wurde Ruth am 23. Januar 1914, ungefähr ein halbes Jahr vor Beginn des ersten Weltkriegs. Als sie starb, wurde ich gerade 23 Jahre alt, sie hatte mir ganz kurz vor ihrem Tod noch eine Glückwunschkarte geschrieben. Die Schrift war kaum leserlich, es muss ihr schon sehr schlecht gegangen sein. Die Todesnachricht erreichte mich ungefähr zeitgleich mit der Postkarte.

Heute weiß ich, dass ich viel zu wenige Fragen gestellt habe, als es noch ging. Viele Dinge weiß ich nur vage, genaue Zeitpunkte und Zusammenhänge sind mir oft unklar. Was ich hier aufschreibe sind meine Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit und ein paar Ergänzungen, die ich von meinen Tanten oder meiner Mutter erzählt bekommen habe. Die vielen Lücken, die mir zum Teil jetzt erst klar werden, machen mich traurig, aber ich werde nicht versuchen, sie zu vertuschen.

Die frühen Jahre

Ruth Mäder wurde in Leipzig geboren, als Tochter von Theodor und Lore Reischauer. Ein Zweig der Reischauers ist in die USA ausgewandert. Einer von ihnen war Edwin O. Reischauer, der als US-Bürger in Tokio geboren wurde und später dort als Botschafter der USA tätig war und darüber ein Buch geschrieben hat.

Über die Kindheit und Jugend meiner Oma weiß ich nichts. Sie hatte keine Geschwister. Ihr Vater fiel im ersten Weltkrieg, als sie drei Jahre alt war.

Familiengründung, Krieg und Scheidung

Irgendwann in den 30er Jahren heiratete sie Carl-Georg Mäder. Wann und wo sie sich kennengelernt haben, weiß ich nicht.

1939 kam meine Mutter Verena als erstes Kind auf die Welt. Das war in Rostock, einen guten Monat vor Beginn des zweiten Weltkriegs. Keine gute Zeit, um Kinder großzuziehen. Ein Jahr später folgten Claus und dann 1942 und 1943 Silke und Petra.

Opa Mäder war Ingenieur und arbeite bei den Ernst Heinkel Flugzeugwerken in Warnemünde. Aber dann hatte er einen sehr schweren Motorradunfall, den er knapp überlebte. Aber Glück im Unglück, aufgrund seiner Verletzungen wurde er nicht zum Kriegsdienst eingezogen.

Die Familie zog Anfang der 40er Jahre nach Bremen, wo mein Opa sich selbständig machte. Claus war ein hochsensibles Kind und die Bombenangriffe setzten ihm sehr zu. Mehr noch als den anderen, hieß es. Vielleicht zeigten die Schwestern ihre Angst einfach nicht so. Oder sie hatten die Mädchenrollen „fürsorglich“ und „still“ schon so verinnerlicht, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, gegen die schrecklichen Stunden im Bombenkeller aufzubegehren. Jedenfalls wurde nur Claus nach Bückeburg geschickt, wo inzwischen die Mutter meiner Oma lebten und es weniger Bombenangriffe gab als in Bremen.

Die restliche Familie zog nach Stubben, einem kleinen Ort zwischen Bremen und Bremerhaven. Dort besaß mein Opa eine Molkerei, die seinem Vater gehört hatte und die nach dessen Tod kommissarisch geleitet worden war. Eine der Büroangestellten war Thea und sie wurde nun die Geliebte meines Opas.

Nach langem Rosenkrieg ließ sich meine Oma 1952 scheiden und zog mit den Kindern zu ihrer Mutter nach Bückeburg. Dort lebten sie zu fünft in einem kleinen Dachzimmer. Nach dem Krieg machte meine Oma eine Ausbildung zur Lehrerin.

Nachkriegszeit

Im November 1960 verunglückte Claus bei einem Verkehrsunfall. Im Dezember wäre er zwanzig Jahre alt geworden. Meine Mutter schwärmte für James Dean, aber hatte kein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder. Nun waren beide tot, weil sie schnelle Autos liebten.

Meine Oma blieb in Bückeburg, während ihre Töchter heirateten und sich in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Meine Mutter und ihre jüngste Schwester Peti heirateten Piloten und zogen oft um. Silke heiratete einen Arzt und zog zu ihm und seiner Mutter in ein großes Haus in einer kleinen schwäbischen Stadt.

Meine Kindheit

Oma

1966 kam ich in Oldenburg zur Welt. Knapp drei Jahre nach meinem Bruder Oliver. Heute denke ich oft darüber nach, wie nah meine Kindheit zeitlich an den Kriegserfahrungen meiner Eltern und Großeltern war. Nur gut zwanzig Jahre vom Kriegsende bis zu meiner Geburt. Zwanzig Jahre! Vor zwanzig Jahren war 1995. Sechs Jahre nach der Wende, und die war doch gerade erst. Und doch war es eine ganz unbeschwerte Kindheit. Die Ölkrise war das, was einer persönlichen Entbehrung am nächsten kam. Das waren großartige autofreie Sonntage, die ich damit verbrachte, zusammen mit meinem Bruder Spuren im Schnee zu verfolgen.

Meine ersten Erinnerungen an meine Oma, das sind Bilder von einem Besuch in Bückeburg, ihr Haus mit den knarzenden Dielen, Trockenblumen, Muscheln in einem Glas, Mecki Bücher im Schrank, rutschfeste Matten in der Badewanne, weil sie bereits mehrfach ausgerutscht war und sich den Arm gebrochen hatte, ein Platz über den wir gemeinsam liefen, um zu der Grundschule zu gelangen, in der sie unterrichtete und Alben voller Briefmarken, mitgebracht von ihren unzähligen Reisen durch die ganze Welt.

Und natürlich Weihnachten. Jedes Jahr kurz vor Weihnachten kam Oma mit dem Zug zu uns und blieb bis Anfang des nächsten Jahres. Wir nannten sie die Weihnachtsgans. Als Kind liebte ich diese Zeit, Meine Oma erzählte immer ihre eigenen Versionen der Grimmschen Märchen, dabei rauchte sie Zigaretten, strickte Pullover, nähte Knöpfe an oder alles gleichzeitig. Meine schönste Erinnerung an Weihnachten ist das Jahr in dem an Heiligabend der Strom länger ausfiel. Wir saßen bei Kerzenschein im Zimmer meines Bruders, Oma erzählte wieder Märchen und wir warteten gespannt auf die Bescherung.

Später ging ich oft mit meiner Oma ins Kino. Sie liebte Filme, besonders Western und Krimis. Bei Filmen, die erst ab sechzehn freigegeben waren, schmuggelte sie mich rein. Ich kannte „Der weiße Hai“ und alle Sergio Leone-Filme, bevor ich dreizehn war. Wenn mich heute jemand nach meinen Lieblingsfilmen fragt, dann befinden sich noch immer viele der Filme, die ich damals mit meiner Oma gesehen habe, unter den Top 10.

Zwischen den Jahren

Aber es gab auch andere Seiten. Meine Mutter verstand sich nicht gut mit ihrer. Manchmal erzählte sie mir von ihrer Kindheit, von der Zeit als ihre Eltern noch nicht geschieden waren. Beide hatten immer sehr viel getrunken, einmal ist mein Opa mit einem Messer hinter meiner Mutter her gerannt, allerdings war er da stocknüchtern. Sie hatte schreckliche Angst, aber ihre Mutter half ihr nicht.

Die Stimmung zwischen meiner Mutter und meiner Oma prägte auch die Wochen, in denen sie bei uns war und das Verhältnis meiner Mutter zu mir und meinem Bruder. Sie würde uns niemals im Stich lassen, sagte sie immer wieder. Heute weiß ich, dass gerade ein solcher mantra-artig vorgetragener Satz große Verunsicherung auslöst. Und dass es andere Entbehrungen gibt als den Mangel an materiellem Wohlstand. Emotionale Entbehrungen, Einsamkeit und Verlassenheit.

Meine Mutter war immer sehr angespannt, stritt sich mit meiner Oma oder kümmerte sich wenig um sie. Eines Tages, ich muss so elf oder zwölf und eine totale Nervensäge gewesen sein, fuhr meine Mutter Einkaufen und sagte meiner Oma, wenn ich zu sehr über die Stränge schlüge, dürfte sie ruhig mal richtig durchgreifen. Das tat sie dann auch. Ich bekam eine Ohrfeige, die so heftig war, dass mein Kopf gegen den Türrahmen schlug. Ich sprach tagelang nicht mit meiner Oma. Dass sie die Ansage meiner Mutter direkt in die Tat umsetzte, hatte meine bis dahin relativ sicher geglaubte Unversehrtheit in ihren Grundfesten erschüttert. Ich bin mir sicher, dass es ihr hinterher leid tat. Möglicherweise hatte ihr Zuschlagen viel mit ihrem Verhältnis zu ihrer Tochter zu tun, vielleicht war es ihr Versuch, meiner Mutter gegenüber irgendwas wieder gut zu machen, zu beweisen, dass man sich auf sie verlassen kann. Es tat sehr weh und tut es bis heute.

Nichts wie weg

Ich kam in die Pubertät und war kaum noch zuhause. Meine Eltern stritten nur, mein Vater hatte Migräne oder schlechte Laune und nörgelte an mir rum. „Setz deinen fetten Arsch in Bewegung“, waren im Gespräch mit mir wohl seine meist verwendeten Worte. Meine Verwandlung vom Kind zur jungen Frau schien ihm nicht zu gefallen. Eventuell noch weniger als mir selbst. Meine Verwandlung zum Punk mit abrasierten und bunten Haaren vergrößerte die Distanz zwischen uns nur noch mehr.

Und zu Weihnachten saß meine Oma auf der Couch, umzingelt von Menschen, die nur stritten oder sich anschwiegen. Für Märchen war ich zu groß, gemeinsame Kinobesuche gab es auch nicht mehr, ich sah zu, dass ich weg kam. Oma trank sehr viel, heimlich, wir merkten es oft erst später, an den zur Tarnung mit Wasser verdünnten Schnapsflaschen. Nur einmal kam sie mir torkelnd entgegen, eine Spur von Zigaretten hinter sich herziehend (Hänsel und Gretel), weil sie die Schachtel verkehrt rum hielt. Sie wollte sich mit mir unterhalten, machte mir Vorwürfe, weil ich nie da war. Einmal ging ich mit ihr ins Stormcafé (benannt nach dem berühmten Sohn unserer Stadt), eine schauderhafter Hölle aus Spitzendeckchen und Kännchenkaffee. Ich bin mir sicher, ihr hat es dort auch nicht gefallen. Dort saßen wir eine Weile rum und langweilten uns. Ich hätte sie mitnehmen können in meine Stammkneipen, vielleicht hätte ich einen Joint mit ihr rauchen sollen. Das alles denke ich heute, damals wäre ich im Traum nicht auf die Idee gekommen. Ich wollte nur weg, sie wollte nur weg, aber wir gingen in verschiedene Richtungen.

Nationalsozialismus

Ein Thema gab es doch, das mich sehr beschäftigte und über dass meine Oma mir viel hätte erzählen können. Aber ich begann erst Ende der 80er Jahre mich intensiv mit dem Nationalsozialismus und der Shoah auseinanderzusetzen. Da war meine Oma schon tot. Was ich weiß, sind verwirrende und widersprüchliche Fragmente. Als ich noch Kind war erzählte meine Oma mir, dass sie beim BDM war und einmal Adolf Hitler dort vorbeigeschaut und sie mit seinen stahlblauen Augen angesehen habe. Dass Hitler keine blauen Augen hatte, wussten wir beide, mit diesem Bild wollte sie ausdrücken, dass der Adolf jawohl selbst nicht der 1A Arier war. Das war ihre ironische Art, Distanz zur Vergangenheit herzustellen und sich als nicht verstrickt zu präsentieren. Erst später fiel mir auf, dass sie für eine BDM-Mitgliedschaft eigentlich schon zu alt war. Von daher weiß ich nicht, was von dieser Geschichte zu halten ist. (Edit: Meine Mutter bestätigt die BDM-Mitgliedschaft meiner Oma. Es gibt davon Fotos und eine Brosche) Immer wieder betonte sie, dass sie Zeit ihres Lebens Sozialdemokratin war. Ich kann dazu nichts sagen, ich weiß nicht, wie sie sich während des Nationalsozialismus verhalten und was sie mitbekommen hatte. Widerstandskämpferin war sie nicht, aber vielleicht hatte sie in einigen kleinen Dingen richtige Entscheidungen getroffen. Ich würde es mir wünschen.

In meinem Bücherregal steht die doppelbändige Originalausgabe von „Mein Kampf“, mit einer Widmung an Carl-Georg Mäder, meinen Opa. Laut Widmung bekam er den ersten Band zu Weihnachten 1932 und den zweiten zum Geburtstag 1933. Beide von seiner Halbschwester Ella. Hat es ihm gefallen? Ich weiß es nicht. Ich weiß leider gar nichts über die politische Einstellung meines Opas. Opa Mäder starb schon Anfang der 70er Jahre mit knapp über fünfzig. Die beiden Bücher hüte ich, sie sind Zeugnis für eine unfassbar grausame Zeit und Teil meiner Familiengeschichte.

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Die Beerdigung

Am 22. April 1989 bin ich dreiundzwanzig geworden. Am nächsten Tag starb meine Oma. Als wir nach ihrem Tod ihr Haus ausräumten, öffnete ich neben ihrem Bett einen Kleiderschrank. In dem Schrank befand sich kein einziges Kleidungsstück, sondern nur Krimis, hunderte von Krimis, fast alle aus dieser roten Reihe des Goldmann Verlags, Edgar Wallace, Agatha Christie und so. Auch ich lese gern Krimis und habe eine ähnlich stolze Sammlung. Meine Vorlieben sind amerikanische Hard-Boiled-Literatur und ob bei meinem Tod noch Bücher aus dem Regal fallen werden oder ein Stapel Festplatten (oder ganz was anderes), wird sich zeigen.

Gestorben ist meine Oma nicht zuhause, sondern bei ihrer Schwägerin Ella, einer weiteren Station ihrer alljährlichen Wanderschaft. Dort hatte sie Blut gespuckt, noch versucht es wegzuwischen und dann war sie tot. Sie wäre niemals freiwillig zum Arzt gegangen. Die Frauen in meiner Familie sind stark, sie brauchen keine Hilfe. Bei der Beerdigung stand ich neben meiner Mutter. Meine Oma war Atheistin, meine Mutter und ich sind es auch, aber irgendjemand kam auf die Idee einer katholischen Beerdigungszeremonie. Ein Priester hielt am Grab eine Rede, ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat, aber ich habe mich dafür geschämt, dass wir ihr das posthum antaten. Ich weinte ein bisschen. Meine Mutter neben mir weinte nicht. Als es daran ging, Erde auf den Sarg zu werfen, blieb meine Mutter neben mir stehen und versuchte mich an das Grab meiner Oma zu schieben. Ich wehrte mich mit aller Kraft und blieb stehen. Noch heute spüre ich den starken Druck ihrer Hand auf meinem Rücken. Aber ich wollte nicht ihren Part übernehmen, nicht ihre Stellvertreterin sein.

Ja, wir sind starke Frauen und morgen gehe ich zur Therapie und werde sicher wieder weinen.

Ruth Mäder, geborene Reischauer, 23.1.1914 – 23.4.1989

 

Vielen Dank an Inés Gutiérrez Zbydniewska, die, nachdem ich im gemeinsamen Chat von meinen Kinobesuchen mit meiner Oma erzählte, sagte, über diese Oma würde sie gern mehr erfahren. Ich hatte ja keine Ahnung, was dabei rauskommen würde.

Projekt: Nude

…is a sacred playground that teases boundaries.

 

 

Vier Sets, sechsunddreißig Menschen, ein Wochenende. Ein Projekt von Brigitte Schlögel.

Im Vorfeld Anfertigung der Kostüme, Anproben und Photodokumentationen, Performances mit den Kostümen, Set-Entwicklung, Sets bauen etc. Sehr viel Handwerk, sehr viel Nachdenken. Intensive Zeiten.

… diese Aktion hält sich in keinem Bezugssystem auf. Alles ist frei erfunden und folgt keiner äusseren Bedingung. Kein Abgabetermin, kein Galerist, keine Kuratorin, kein Auftrag, kein Geld, kein Lebenslauf, keine Bewerbung, kein Format, kein Anlass kein Ziel.
Man könnte denken, das ist ja das Problem, das ist doch schade um die viele Mühe usw. Oder auch schade um die schöne Energie, wenn sie sich nirgends platziert…
Mein momentaner Trend  ist aber eher so, dass ich sehr deutlich zu spüren glaube, welche umwerfende Freiheit diese Anordnung in sich hat. Und dass sie sich schon platzieren wird oder es bereits tut, nur nicht an einer Galeriewand hängt.     -Bri

 

 

Set 1 Tiefsee

Bei Tiefsee geht es tatsächlich um Deepness, jede Einzelne zu beobachten in dem völligen Nichts an Bewegung und darin in völliger Präsenz. Ist zum Heulen faszinierend schön. Was für ein Statement!  -Bri

 

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Tiefsee Making Of

 

Set 2  Zombie

Die gleichen Figuren als Zombies: Banalität,  sehr lustig, und das mit einer fast rührenden Ernsthaftigkeit.  -Bri

 

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Set 3 Catwalk

Anmut, Schönheit, die auf eine sehr ungewöhnliche Art gleichmässig verteilt ist. Es kommt mir vor, als ob jede Anteil an der selben Schönheit hat. Die stärksten Bilder sind die drumrum: das Warten, die Aufmerksamkeit, die Ruhe, das Aufstellen, die Geduld, das Nichts-Sein. Und dann, nach der strapaziösen Balancier-Tour: das Absteigen, das sich zu einem Tanz vermischt, sehr zärtlich, fein.  -Bri

 

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Set 4 Auferstehung

 

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Zugabe: Resurrection

 

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Das Original unseres Auferstehungszenarios stammt aus dem Freskenzyklus Geschichte des Antichristen – Das Ende der Welt (oder Die vier letzten Dinge: Tod, Gericht, Hölle und Himmel) von Luca Signorelli und kann in der Kapelle San Brizio in Orvieto betrachtet werden.

 
 
On the sacred playground… #Andrea Mesch #Anette Claus #Almut Glagau #Chris Ritter #Christian Dahlmann #Christiane Hommelsheim #Christine Standfest #Corazon Rial y Costas #Daniela Speder #Daniela Trattnig #Dea Dettmering #Ella Wieser #Ernestine Gabriel #Frauke Kober #Ilka Schneider #Irene Moessinger #Isabel Heins #Jeannie Moser #Justine Schlögel #Katrin Mlynek #Lily Besilly #Louis Zoller #Natalia de Olavarrieta #Nathalie Percillier #Nathalie Steinbart #Petra dos Santos #Sabine Rieck #Siggi Bennett #Simon Blum #Tanja van de Loo #Thomas Humme #Tine Roloff #Verena Maul #Walli Höfinger #Zia Ziarno

#Brigitte Schlögel  ….teasing boundaries.

 

„…is a sacred playground that teases boundaries“

ist zitiert aus Meg Stuart/Damaged Goods.
Das vollständige Zitat lautet:“Sketches /Notebook is a sacred playground that teases boundaries. Embrace the dark. Swing your arms. Change the weather.“

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Sie nannten ihn Bübi. Wir sind uns mal begegnet, es gibt Fotos, die das beweisen. Schwarzweiß, er mit Pfeife, ich mit einem Löffel Brei. Er war der Sohn von Susanne und sie die große Schwester meines Vaters. Susanne vergaste sich in einer Garage. Vorher gab sie Bübi zu ihren Eltern. Mein Vater hatte plötzlich einen kleinen Bruder. Eine Mutter hatte er nicht, denn sie war bei seiner Geburt gestorben. Eine eilig herbeigeheiratete Stiefmutter sollte sie ersetzen. Bübi hatte Krebs in den Lymphdrüsen, Hodgkin. Als er starb, war ich vier.

Einmal, als ich vom Klo kam, hörte ich meine Mutter am Telefon weinen, weil mein Onkel Klaus mit dem Flugzeug abgestürzt war. Da war ich neun. Wir sprachen nie über die Toten, bis zu dem Tag, als mein Bruder Oliver die Bübi-Diagnose bekam. Hodgkin. Ich war neunzehn und der Tod interessierte mich nicht. Meinen Bruder auch nicht, aber er fuhr jetzt regelmäßig in die Uniklinik. Chemotherapie, Bestrahlung, es sah nicht gut aus, die Ärzte wollten schon aufgeben, aber einer ging aufs Ganze und verabreichte ihm eine kaum mehr vertretbare Dosis Strahlen. Mein Bruder sprang dem Tod von der Schippe, suchte sich einen Job, heiratete, ließ sich scheiden, verliebte sich neu und bekam ein Kind. Ein Wunder, nach all der Bestrahlung. Laura.

Als Kind schlug sich mein kleiner Cousin Kai gleichzeitig lachend und weinend den Kopf auf. Später klaute er seinem Vormund eine Wochenration Methadon und zog sich den Stecker. Er starb am 62. Geburtstag meiner Mutter. Kai war der Sohn von Onkel Klaus.

Drei Jahre später dann mein Vater. Blasenkrebs. Ich hätte ihm gern noch viel erzählt, aber wir wussten beide nicht, wie das geht. Er will dir unbedingt noch was sagen, teilte meine Mutter mit. Ich sagte ihm, es sei alles gut und er könne jetzt loslassen. Er starb in jener Nacht und ich saß bei ihm im Bett, hielt seine Hand und versuchte ihn nicht festzuhalten. Er tat seinen letzten Atemzug, ein ganz feiner stiller Hauch. Am nächsten Tag wurde ich achtunddreißig.

Kurz danach füllte sich die Lunge meines Bruders mit Flüssigkeit, jeder Atemzug ein Rasseln. Das Herz war schuld. Eine Spätfolge der Krebstherapie, hieß es. Er wurde operiert, es wurde nicht besser, er bekam einen Schrittmacher und es wurde nicht besser. Er kam auf eine Spenderliste und wir warteten auf den Tod eines anderen, eines Menschen mit einem guten Herzen. Vor Monaten war er mal enttäuscht von dir und jetzt will er dich nicht sehen, sagte meine Mutter. Wenn wir uns jetzt gegen seinen Willen durchsetzen, muss er ja denken, dass es sehr schlecht um ihn steht, sagte sie. Es stand sehr schlecht um ihn und nur ein einziges Mal noch sah ich ihn bei Bewusstsein. Dann, endlich, hatten sie ein Herz gefunden, aber es wollte ihm nicht passen. Ich sah ihn durch die Scheibe einer Tür, er lag da, mit offenem Brustkorb, beatmet durch eine Maschine, die Hände auf den Bauch gelegt. Ich musste die ganze Zeit daran denken, wie ähnlich sich unsere Hände sind. Als er anfing blau anzulaufen, schalteten sie ab. Stille.

Ich bin jetzt achtundvierzig und wenn ich zurückblicke, zieht es mich hinab in jenes Narbenland, in dem Nähe nur im Angesicht des Todes möglich ist. Manchmal blicke ich nach vorn, in Richtung meines eigenen Todes, dann verlasse ich die mit Schmerz ausgeschlagene Kuschelzone und stürze mich in dieses tödliche Leben.